Festschrift zur 100-Jahr-Feier - 100 Jahre Bergischer Zahnärzteverein Bergischer Zahnärztetag 1996

Zukunftsperspektiven der Zahnheilkunde

Festvortrag
von Prof. Dr. Michael Heners, Karlsruhe

vor Kongreß-Teilnehmern und geladener Öffentlichkeit

Zum Geleit

Der Bergische Zahnärztetag 1996 hat Kolleginnen, Kollegen und Zahntechniker zu den Fachvorträgen sowie geladene Öffentlichkeit zum Festvortrag zusammengeführt.

Die vorliegende Dokumentation hält in Wort und Bild skizzenhaft die Stationen dieses Tages fest. Sie gilt als Dank an diejenigen, die zum Gelingen der 100-Jahr-Feier beigetragen haben, und als Herausforderung an uns alle, die Ereignisse über diesen Tag hinaus einzuordnen.

Wuppertal, im Februar 1996

Dr. Christoph Zimmer
Dr. Wolfgang Korte

Dialog zwischen Zahnärzteschaft und Politik


Frau Oberbürgermeisterin Ursula Kraus
überbringt die Glückwünsche der Stadt Wuppertal
dem Vorsitzenden Dr. Christoph Zimmer


Dr. Hans Kegel
im Gespräch mit
Ministerpräsident Dr. h.c. Johannes Rau

Ästhetische Restaurationen

Ein Gesamtkonzept zur Zusammenarbeit Zahnarzt/Zahntechniker von der Fallplanung bis zur Fertigstellung
ZTM Ernst A. Hegenbarth, Bruchköbel

Zusammenfassung
bearbeitet von Dr. H. R. Kolwes

Dentale Ästhetik und das Empfinden von Harmonie sind keine absoluten Werte, die sich jedem Menschen in gleicher Weise darstellen. Ist es für den fachlich kompetenten Zahnarzt und den kreativ gestaltenden Zahntechniker schon schwierig genug, ihre jeweiligen ästhetischen Vorstellungen in Einklang zu bringen, kann man ermessen wie diffus die Vorstellung des Patienten über "dentale Ästhetik" sein muß. Nur mit einer optimalen Information über die realistischen Möglichkeiten einer ästhetisch-funktionellen Rehabilitation gewinnt man das Vertrauen des Patienten. Und dieses Vertrauen kann später entscheidenden Einfluß auf die Akzeptanz der prothetischen Arbeit haben. Kann man die loyale Partnerschaft eines verantwortungsvoll arbeitenden Labors voraussetzen, ist die Beratung durch den Zahntechniker durchaus eine Möglichkeit, dem Patienten zusätzliche Informationen anzubieten.

Schon bei der Besprechung des Behandlungsplanes oder beim Beratungsgespräch im Labor sollte man versuchen, auch etwas in den Patienten "hineinzuhorchen", um seine Wünsche, aber auch seine konkreten Erwartungen an das behandelnde Team, besser kennenzulernen.

Psychogene Faktoren, die mit kosmetischen oder ästhetischen Problemen oder gar dem Verlust von Zähnen einhergehen, spielen für viele Patienten eine weitaus größere Rolle, als sie zu Beginn einer Behandlung sich selbst, aber auch gegenüber dem behandelnden Zahnarzt eingestehen mögen.

Es ist jedem an einer erfolgreichen ästhetischen Zahnheilkunde interessierten Zahnarzt anzuraten, sich intensiv mit der Persönlichkeit des Patienten, seiner Motivation, seinen Wünschen, Hoffnungen und Erwartungen zu befassen. Aber auch mit den Grundlagen und Komponenten der oralen Ästhetik sollte man vertraut sein:

  • Das Gesicht - Symmetrie, Asymmetrie, Proportionen.
  • Die Komponenten einer perfekten oralen Ästhetik: Zahnform, Zahnstellung, Gingiva, Interdentalräume, Zahnfarbe, Zahnoberfläche.
  • Lichtoptische Phänomene: Reflexion, Streuung, Absorption, Opaleszenz, Fluoreszenz, Lumineszenz.
  • Die Farbdimensionen: Farbton, Farbwert (Value), Farbintensität (Chroma), Transluzenz.
  • Die Praxis der Farbauswahl:
  • a) Bestimmen des Grundtons: optimale Lichtverhältnisse: neutrales Nordtageslicht - farbkorrigierende Kunstlichtlampen.
  • b) Chroma-Variationen erkennen: Chroma-Erhöhung mit dem Creativ-Color-System®.
  • c) Innere Strukturen des Zahnes erkennen, bestimmen und skizzieren.
  • d) Schmelzstruktur auswählen: transparent, milchig, gräulich (hoher oder niedriger Farbwert), farbig-transluzent, etc.
  • e) Oberflächen-Charakteristika und Kontraste.
  • f) Oberflächen-Struktur.

Eine weitere Grundlage für den späteren Erfolg einer Restauration stellt das diagnostische Wax-up dar. Dieses Wax-up dient in der Regel auch als Grundlage für die Präparation und die Erstellung des Provisoriums. Es begleitet alle weiteren Arbeitsschritte.
Bei umfangreichen Rehabilitationen oder langwierigen prothetischen Behandlungen werden metallarmierte Langzeitprovisorien hergestellt.
Neben den klassischen Metallkeramik-Restaurationen kommen adhäsiv befestigte Frontzahn-Restaurationen (Laminate Veneers) und keramische Inlays immer häufiger zur Anwendung.

Die dargestellten klinischen Fälle zeigten insbesondere im gingivalen Bereich deutliche Vorteile gegenüber konventionellen Metallkeramik-Kronen auf. Aber auch bei diesen lassen sich mit keramischen Schultern sehr gute Ergebnisse erzielen.

Nach der Präsentation einer Reihe klinischer Fälle mit sehr vielen Variationen wurde dem Auditorium eine neue computergestützte Technologie (Procera®/Nobelpharma, Schweden) vorgestellt. Bei diesem Verfahren werden die präparierten Stümpfe mit einem Scanner, der 20.000 bis 30.000 Meßpunkte erfaßt, abgetastet. Auf dem Computer-Monitor wird das "Design" der Kronenkappe gestaltet. Die Daten werden per Telefonleitung (Modem) nach Stockholm gesandt, dort werden in einer Work-Station hochfeste Aluminiumoxid-Kappen produziert und zurückgeschickt. Diese werden anschließend mit einer neuartigen Keramik verblendet.

Der Referent zeigte neben Einzelzahn-Versorgungen, teilweise in Kombination mit Laminate-Veneers, auch umfangreiche Totalsanierungen nach präprothetischer Chirurgie.

In Verbindung mit diesem neuen metallfreien System wurde abschließend eine Technik präsentiert, gegossene Stiftkern-Aufbauten keramisch zu verblenden. Dieses Verfahren ergibt deutlich bessere ästhetische Resultate im Bereich der sehr schwierigen Versorgung devitaler Frontzähne mit Einzelkronen.

Ästhetik in der Totalprothetik

Prof. Dr. Sandro Palla, Zürich

Zusammenfassung
bearbeitet von Dr. J. Oberheiden

Zu Anfang wurden die Begriffe "Ästhetik" uns "Kosmetik", nämlich das Studium der Philosophie der Schönheit auf der einen Seite und die Verschönerung eines Körperteils auf der Anderen Seite definiert.

Der Patient muß sich an den Zahnverlust anpassen, da der Zahnverlust nicht nur biologische und funktionelle Konsequenzen für ihn hat, sondern auch psychologische. Die Totalprothese dient somit nicht nur der Erhaltung der Kaufunktion, sondern auch den zwischenmenschlichen Beziehungen, d.h. die Totalprothese sollte einen möglichst natürlichen Eindruck erwecken. Sehr wichtig ist, daß der Patient mit sich selbst zufrieden ist und seine Prothese nicht als Fremdkörper empfindet. Jedoch wird die Totalprothetik in absehbarer Zeit an Stellenwert verlieren; so sollen nach einer Untersuchung in der Schweiz im Jahre 2003 nur noch etwa 4 - 5% der 65-Jährigen komplett zahnlos sein.

Da auch die Natur nicht immer schön ist, kommt dem natürlichen Eindruck der Totalprothese eine entscheidende Bedeutung zu. Dieser wird durch folgende Parameter in großem Maße beeinflußt:

  • Zahnposition
  • Lippenposition
  • Zahnform
  • Schneidekantenverlauf
  • Zahnfarbe
  • Gingivaverlauf

Diese ästhetischen Faktoren spielen eine entscheidende Rolle bei der Inkorporation der Prothese. Die Ästhetik der Totalprothetik beginnt im Gesicht; dabei gilt immer, daß zwei Gesichter nie gleich sind. Es ist wünschenswert, eine dentofaziale Harmonie zu erreichen. So hat die Position der oberen Inzisivi eine wichtige Bedeutung. Verschiedene Varianten können im Vorfeld durch ein Wax-up getestet werden. Eine Frontzahnaufstellung wirkt natürlich, wenn die Gesichtszüge sowie das Patientenalter Berücksichtigung finden.

Selbstverständlich spielt auch die Zahnform eine Rolle. Die meisten Zähne, die die Hersteller liefern, sind im Durchschnitt gegenüber den natürlichen Zähnen zu klein und passen so nicht zur Harmonie und zum Gesamtbild des Gesichtes.

Der Verlauf der Schneidekanten sollte sich sowohl am Nasenbasis- als auch am Lippenverlauf orientieren. Im Laufe der Zeit abradieren die natürlichen Zähne, d.h. altersabhängig verändern sich die Zahnlänge und die Relation der Zahnlänge zur Lippe. Diesen Tatsachen muß ebenfalls Rechnung getragen werden. Aus diesem Grunde sollte auch die Länge der Zähne einer Totalprothese beim Sprechen und nicht in Ruheposition bestimmt werden.

Wichtig auch hier ist es, die Gesichtszüge und das Patientenalter zu beachten.

Die Zahnfarbe richtet sich nach Haut- und Gesichtsfarbe des Patienten und muß ebenfalls altersentsprechend sein. Die Totalprothese kann individuell charakterisiert werden, und zwar im Front- und Seitenzahnbereich sowie auf der Prothesenaußenfläche. Selbst vorgefertigte Kunststoffzähne können z.B. durch Einbringen von Farbe individualisiert werden.

Ein wichtiges Charakterisierungsfeld ist die Prothesenaußenfläche; hier kann man z.B. die Interdentalräume offen wirken lassen, indem diese dunkel eingefärbt werden.

Das Ziel unserer Maßnahmen muß es sein, die Illusion zu schaffen, daß der Patient bezahnt ist, d.h. wir müssen Gesichter studieren und unseren Blickwinkel über die Mundöffnung hinaus erweitern.

Es geht nicht um das "change your smile" sondern darum, dem Patienten seine Natürlichkeit zurückzugeben: Es geht um das "change your face".

Da aber nicht jeder Zahnarzt und Zahntechniker zugleich auch ein Künstler ist, bieten alte Photographien eine gute Hilfestellung; oftmals gleichen Söhne ihren Vätern bzw. Töchter ihren Müttern; dies sollte man sich ebenfalls bei der Wahl der Zahnform und -stellung zunutze machen.

Immer sollten jedoch Alter und Persönlichkeit des Patienten im Auge behalten werden.

Der Patient sollte die gleichen Wahlmöglichkeiten bei seiner Totalprothese haben wie bei allen übrigen Produkten, die er erwirbt.

Aber akzeptiert der Patient eine realistisch gestaltete Prothese?

Dies hängt auch zum großen Teil von der Einstellung des Zahnarztes ab und wie der Patient motiviert wird.

Begrüßung der Festversammlung

zur 100-Jahr-Feier des Bergischen Zahnärztevereins

Dr. Christoph Zimmer
1. Vorsitzender

100 Jahre Bergischer Zahnärzteverein,
100 Jahre Zahnärztliche Forschung und Fortbildung im Dienste für den Patienten
sind die Gründe für unsere heutige Festversammlung und für diesen Bergischen Zahnärztetag.

Meine Damen und Herren,
verehrte Gäste,
liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ministerpräsident Dr. Rau!
Herr Direktor Heners!

Die Geschichte unserer wissenschaftlichen Vereinigung bietet ein Kaleidoskop der Entwicklung der Zahnheilkunde bis in unsere Tage. Lassen Sie mich exemplarisch fünf Fortschritte erwähnen, die für uns alle in der Praxis Selbstverständlichkeit sind:

  • das Arbeiten mit rotierenden Instrumenten unter Zuhilfenahme elektrischer Antriebsaggregate,
  • die Behandlung in Lokalanästhesie,
  • das zahnärztliche Röntgen,
  • die Antibiotikatherapie und
  • die Behandlung am liegenden Patienten.

All diese Meilensteine haben die Zahnheilkunde wie kein anderes Fach in der Medizin zu einer invasiven Medizin werden lassen. Besonders die Lokalanästhesie, zu deren Domäne die Zahnheilkunde zählt, verdeutlicht, daß 80% zahnärztlicher Tätigkeit nur mit der Arbeit des Chirurgen im ärztlichen Bereich vergleichbar ist - ein Umstand, der in der öffentlichen Diskussion kaum Bedeutung findet.

Nobelpreisträger wie Wilhelm Röntgen und Prof. Walther Domagk sind vor diese Vereinigung getreten und haben uns ihre grundlegenden Erkenntnisse zum Wohle unserer Patienten vermittelt. Die Themen der Vortragenden beweisen über Jahrzehnte hinweg, daß die Probleme unserer Patienten dieselben sind - gestern und heute. Gewandelt dagegen haben sich die Erwartungen und Behandlungsmethoden.

Nicht nur Teilgebiete unseres Faches wurden abgehandelt, auch Grenzgebiete haben immer wieder die Faszination unseres Berufes hervorgehoben: So behandelte das Vorstandsmitglied Dr. Borgsted auf der 25-Jahr-Feier Patienten vor versammeltem Festauditorium in Hypnose. Der Chronist umschreibt die Atmosphäre als "feierliche Stille" - so wie jetzt.

Damit Sie nicht in den berüchtigten Tagungsschlaf fallen, heiße ich Sie alle und jeden einzelnen von Ihnen willkommen.

Grußwort

des Herrn Ministerpräsidenten Dr. h.c. Johannes Rau

Auszug
bearbeitet von Dr. H. R. Kolwes

Verehrter Herr Dr. Zimmer,
Frau Oberbürgermeisterin,
meine Damen und Herren,

ich bin gerne gekommen, weil die Zahnärztliche Vereinigung nicht nur Mitglieder hat, die meine guten Freunde sind, sondern weil der Zahnärzteverein hier im Bergischen Land zu den großen und renomierten Vereinigungen gehört.

Ich bin dankbar dafür, daß Ihre Vereinigung dafür gesorgt hat, daß das Wort "Fortbildung" und "Weiterbildung" innerhalb der Zahnärzteschaft nie Fremdworte gewesen ist. Es gibt immer noch das Mißverständnis, wer ausgelernt habe, brauche nichts mehr hinzuzufügen. Bei keinem Beruf scheint mir das gefährlicher zu sein als in den Heilberufen, und darum bin ich dankbar dafür, daß der Bergische Zahnärzteverein immer wieder mit einer Fülle von Veranstaltungen die Mitglieder seines Berufsstandes wissenschaftlich weitergebildet hat. Dr. Zimmer hat uns soeben mit fünf Punkten deutlich gemacht, welche Veränderungen es in diesen 100 Jahren gegeben hat. Man hat die ja zeitweise selber erlebt und erfahren. Wer eine gute Erinnerung an die ersten Zahnarzt-Besuche hat, die er selber gemacht hat, dem wird das sehr schnell bewußt sein.

Wir haben ja mit der Gesundheitsreform ein Dauerthema und Sie wissen, so mancher Patient leidet darunter, daß er nichts erwidern kann, wenn der Zahnarzt ihm seine standespolitischen Erklärungen bekannt gibt. Mir selber ist das zum Glück noch nicht passiert - wir reden mehr über Zahnheilkunde als über Standespolitik. Wir leben gegenwärtig in einer Gesellschaft, die demokratisch strukturiert ist, die mit dieser Demokratie lebt und sie, wie ich glaube, vernünftig gestaltet. Es ist immer schwierig, in der Demokratie die Grenzen zwischen Konflikt und Konsens richtig zu ziehen. Und wenn das Wohl des Patienten im Mittelpunkt steht, dann scheint es mir möglich zu sein, auch strittige Fragen konsensual zu lösen. Ich wünsche mir das für die vor uns liegende Phase der Diskussion und will von mir aus mitwirken, so gut ich kann.
Ich möchte Sie noch auf einen Punkt hinweisen, von dem ich glaube, daß wir in ihm eine noch bessere Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten und öffentlicher Hand brauchen. Ich meine die Gruppenprophylaxe und Früherkennung bei Kindern. Ich habe da als spätberufener Vater meine Erfahrungen im Augenblick. Die Kinder sind gerade in einem Alter, in dem die Zahnheilkunde im Mittelpunkt manchen Tischgespräches steht. Und die Kinder versuchen auch ein Leben zu gestalten, bei dem sie jedenfalls Lebensmittel so verzehren, daß es den Zahnärzten nicht schlecht gehen kann. Es ist nicht ganz leicht, das mit väterlicher Autorität in den Grenzen zu halten, die standespolitisch erwünscht sind.

Ich wünsche Ihnen bei dieser Festveranstaltung gute, neue Erkenntnisse und hoffe, daß die Zahnärztliche Vereinigung im Bergischen weitere hundert Jahre fröhlich lebt. Sie ist immerhin fast vier Jahrzehnte älter als die Stadt Wuppertal, und damit gehört sie zu den Kronen, mit denen wir uns gerne und immer wieder schmücken.


Vorsitzender Dr. Christoph Zimmer mit
Amtsvorgänger Dr. Gerhard Rehage,
dem neuernannten Ehrenmitglied

Zukunftsperspektiven in der Zahnheilkunde

Prof. Dr. Michael Heners, Karlsruhe

Auszug
bearbeitet von Dr. H. R. Kolwes

Von der "Zukunft" soll in meinem Vortrag die Rede sein! Die "Zukunft" allerdings,

Herr Ministerpräsident,
Frau Oberbürgermeister,
Herr Dr. Zimmer,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

die "Zukunft" ist seltsamerweise aus den Medien und unserem heutigen Sprachgebrauch verschwunden. Und tatsächlich! Denken wir an die Zukunft, so beschleicht uns die Angst - nicht nur als irrationale Furcht, sondern uns fallen auch viele unschlagbare Argumente ein, warum wir vor der Zukunft Angst haben müssen. Zwar glaubt jeder heimlich und still an "seine Zukunft", einer Erörterung dieser Zukunft weichen wir jedoch aus. Bei den Pfadfindern haben wir gesungen: "...die Zukunft liegt in Finsternis und macht das Herz uns schwer!" Dieses Lied stammt allerdings aus einer Zeit, als die Menschen für die Zukunft noch gelebt haben! Der "Traum nach Gerechtigkeit" war die Zukunft der Sozialdemokraten, der "Glaube an die technische Machbarkeit" die Zukunft des Bürgertums! Die "Zukunft" war zu der Zeit, als der "Bergische Zahnärzteverein" gegründet wurde, eine Herausforderung, eine Motivation - eine Ereignis, für das es sich zu leben lohnte.

Am 31. Januar 1896 gab es den für uns heute selbstverständlich gewordenen gesetzlich definierten Beruf des "Zahnarztes" nicht. Der Begriff des "Zahnarztes" begegnet uns zum ersten Male im "Preußischen Medizinaledikt" von 1685, das 1725 unter dem Soldatenkönig als erste moderne Medizinalordnung ausführliche Bestimmungen über ein geordnetes Gesundheitswesen enthält. Die preußischen Bestimmungen aus dem Jahre 1835 lauten: "Diejenigen, welche sich zu Zahnärzten ausbilden wollen, sollen im Allgemeinen den Bildungsgrad eines Schülers besitzen, welcher den Cursus der Quarta eines zur Universitätsreife ausbildenden Gymnasiums oder den Cursus der gleichstehenden Classe einer Real- oder höheren Bürgerschule absolvirt."

Nach verschiedenen Anläufen gelang es 1859 einer Gruppe engagierter Fachkollegen, den "Centralverein Deutscher Zahnärzte" in Berlin zu gründen. Zweck dieser wissenschaftlichen Gesellschaft war die "Hebung des Standes der Zahnärzte in wissenschaftlicher und sozialer Beziehung, sowie Förderung der Forschungen auf dem Gebiete der zahnärztlichen Gebiete der zahnärztlichen Wissenschaft und Verwerthung derselben in der Praxis."

Im gesamten Deutschen Reich praktizierten um 1850 nicht mehr als 250 "zahnärztlich Approbierte", die eifrig bestrebt waren, eine wissenschaftliche Zahnheilkunde zu etablieren und eine Interessengemeinschaft zu bilden. Diesem Vorhaben standen allerdings einige Hindernisse entgegen: die kleine Anzahl der Zahnärzte, deren allgemeine Konkurrenzangst sowie die Abneigung der Universitäten, sich einer neuen Berufsgruppe zu öffnen.

Als 1869 für den Norddeutschen Bund und 1872 für das gesamte Deutsche Reich die "Kurierfreiheit" verkündet wurde, wurden diese "ausgebildete Zahnärzte" auch noch mit einer wachsenden Zahl zwar legal tätiger, aber nicht approbierter "Zahnbehandler" konfrontiert.
Im heutigen Neustadt a.d.W. konstituierte sich 1874 die "Vereinigung pfälzischer Zahnärzte". In der Gründungsnotiz hieß es, daß diese Vereinigung "als erste Nummer die Bekämpfung der Kurpfuscherei aufstellte" und das Ziel hatte, "neben wissenschaftlichen Tendenzen ein gemeinsames Schutzbündnis zur Wahrung unserer mühselig errungenen Rechte zu bilden".

Als sich am 31. Januar 1896 der "Bergische Zahnärzteverein" zusammenschloß, gab es in Deutschen Reich nur in 5 Großstädten (Breslau, Berlin, Magdeburg, Dresden und Hamburg) sowie in nur 15 Provinzen insgesamt 22 sog. zahnärztliche "Provinzialvereine". Die Bergische Vereinigung war die 23.! Ich halte dies für mehr als eine beachtliche Plazierung, wenn Sie die Größe des damaligen Deutschen Reiches bedenken.

Im gleichen Jahr 1896 wurde in Zürich das Zahnärztliche Institut gegründet. Im Deutschen Reich bestanden an 16 Universitäten "zahnärztliche Unterrichtsstätten", die jedoch auch nicht annähernd mit unseren heutigen Kliniken verglichen werden können. Die Professionalisierung der Zahnheilkunde erhielt erst mit Datum vom 31. März 1952 Ihren vorläufigen Abschluß, als der Deutsche Bundestag das "Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde" beschloß. Es lautet:

§ 1

(2)"Ausübung der Zahnheilkunde ist die berufsmäßige auf zahnärztlich wissenschaftliche Erkenntnisse gegründete Feststellung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten. Als Krankheit ist jede von der Norm abweichende Erscheinung im Bereich der Zähne, des Mundes und der Kiefer anzusehen, einschließlich der Anomalien der Zahnstellung und des Fehlens von Zähnen."

(3)"Die Ausübung der Zahnheilkunde ist kein Gewerbe."

Als sich die Bergischen Zahnärzte im Januar 1896 versammelten, hätte wohl keiner von ihnen zu träumen gewagt, daß der Gesetzgeber einmal zu solch klarer Bestimmung finden würde. Auch hätten es die Gründerväter des Bergischen Zahnärztevereins kaum für möglich gehalten, daß der von ihnen gegründete Verein einmal zu den kaum mehr als eine Handvoll zählenden zahnärztlich-wissenschaftlichen Vereinigungen gehören würde, die Tradition über 100 Jahre aufrechterhielten.

Soweit die Vergangenheit! Ich hoffe, es ist mir durch meine Ausführungen gelungen, die berühmten "Lehren der Vergangenheit" spürbar zu machen und uns als Wegweiser für die Zukunft darzustellen. Neu formuliert heißen diese Lehren:

  • Zahnheilkunde ist kein Gewerbe!
  • Zahnheilkunde als wissenschaftlich untermauerte Tätigkeit ist ein kostbar erworbenes Gut. Der Wissenschaftszweig Zahnmedizin entwickelte sich nicht von allein, sondern er ist das sichtbare Ergebnis zahnärztlich - berufspolitischer Aktivität ein Konsens mit Politik und Gesellschaft!
  • "Kurpfuscherei" hat zu allen Zeiten die ärztliche Berufsausübung begleitet und immer dem Ansehen des gesamten Berufsstandes geschadet. Nur die strikte Ausrichtung unseres Fachgebietes nach wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen kann Kurpfuscherei eindämmen. Solange Menschen Heilkunde ausüben, wird es Kurpfuscherei geben!

Und damit sind wir in der Gegenwart!

Denn welche verheerenden Folgen es mit sich bringt, wenn man die Wissenschaft als modellierenden und korrigierenden Parameter der Heilkunde verantwortungslos beiseite läßt, zeigt sich gerade in unseren Tagen.

Die Tatsache, daß das "Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte" ohne wissenschaftlich begründeten Anlaß, lediglich opportunistischen Bestrebungen folgend und gegen den erklärten Ausdruck der Wissenschaftler den seit über 100 Jahren wissenschaftlich bewährten Werkstoff "Amalgam" mit "Einschränkungen" versehen hat, ist mehr als ein Alarmzeichen.

Seit dieser geistigen Manipulation eines Bundesinstitutes steht die restaurative Zahnheilkunde auf wankenden Grundlagen. Natürlich wissen wir, daß zahnfarbene Füllungswerkstoffe im Seitenzahnbereich angewendet werden können, gesicherte Erfahrungen liegen uns aber noch nicht vor.

Für die Zukunft allerdings wissen wir, daß die klassische Regel, "wo Karies, da Bohrer" schon heute nicht mehr wissenschaftlich vertretbar ist, sondern einer feindiagnostischen Untermauerung bedarf. Sonde und Auge reichen in der Zukunft für die Entscheidung zur restaurativen Therapie nicht mehr aus.

Prävention und Prophylaxe bestimmen auch in der Zukunft die Tätigkeit des Zahnarztes. Allerdings muß die naive und die Problematik des "Infektionsrisikos" der Mundhöhle sträflich simplifizierende Reduzierung dieses Urproblems auf den lediglich "richtigen Gebrauch der Zahnbürste" endlich als das bezeichnet werden, was sie ist: eine Verballhornung zahnärztlicher Erkenntnisse und zahnärztlicher Therapie.

Auch die dem Zahntechnikerhandwerk eigene Vorstellung des Zahnes als "einarmiger Hebel im Knochen" hat mit einem zukunftsorientierten Kenntnisstand moderner Zahnheilkunde nichts gemein. Erst die Interpretation von Zahn und Zahnhalteapparat als Gewebeverband, der spezifische Aufgaben sichert (mechanische Kraftdämpfung, sensorische Kontrolle, Adaptation durch permanenten Gewebeabbau, Reizabwehr und Regeneration durch mesektodermales Potential), gibt klassischen, handwerklich orientierten prothetischen Konstruktionen die therapeutische Aufgabe zur Erhaltung oraler Strukturen mittels gewebeintegrierter Konstruktion en beizutragen.

Schließlich wird es uns in aller nahester Zukunft gelingen, endlich die Zahnmedizin von ihrer technomorphen Vereinfachung zu befreien und statt dessen in ihrer wirklichen Komplexität und Kompliziertheit zu verstehen. Dadurch werden nicht nur die behandelnden Zahnärzte, sondern vor allem Patient und Gesellschaft ein größeres Verständnis für Komplikationen und für den Erfolg zahnärztlichen Bemühens aufbringen.

Wie fasse ich meine "Perspektiven einer modernen Zahnheilkunde" zusammen?

  • Eine zukunftsorientierte Zahnheilkunde muß wissenschaftlich begründet sein und bleiben! Zahnheilkunde darf nicht zum Gewerbe entarten! "Wissenschaftlich begründet" heißt nicht allein "akademisches Studium" und "Doktorgrad"! Wissenschaftlich begründet heißt, daß der Praktiker sein tägliches Tun entsprechend wissenschaftlichem Erkenntnisstand beobachten und analysieren muß.
  • Voraussetzungen für dieses "analytische Beobachten" ist eine aktive Teilnahme am ständigen Entwicklungsprozeß der Zahnmedizin - der Fortbildung!
  • In den vergangenen 20 Jahren ist es der Zahnmedizin gelungen, die zahnärztliche Kunstfertigkeit auf ein Plateau zu heben, von dem man zu meiner Studentenzeit noch nicht einmal träumen konnte. Bedeutsame Steigerungen sind hier nicht mehr zu erwarten. Die technomorphe Entwicklung der Zahnheilkunde als "intraorale Zahntechnik" hat ihren Abschluß gefunden.
  • Ganz wesentlich wird sich das zukünftige zahnärztliche Therapiespektrum dadurch ändern, daß Zahnärzte und Patienten in ihr Bewußtsein aufnehmen müssen, daß alle zahnärztliche Manipulationen in einem Biotop stattfinden, das durch eine permanente Infektionsabwehr gekennzeichnet ist. Zahnärztliche Behandlungsergebnisse können deshalb nicht dauerhaft stabil sein!
  • Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, wird der zukünftige Zahnarzt eine umfangreichere und verfeinertere Diagnostik und Behandlungsplanung betreiben müssen als bisher. Die klassischen Regeln "Karies gleich Bohrer" oder "Zahnlockerung gleich Zange" sind schon heute obsolet.
  • Durch Unterstützung der EDV wird es außerdem in der Zukunft möglich sein, den zahnärztlichen Eingriff nicht mehr in seiner vereinfachenden Idealisierung , sondern endlich in seiner wirklichen Komplexheit und Kompliziertheit zu erfassen und zu gestalten. Der zahnärztliche Eingriff wird dadurch fachfremden Bevormundungen entzogen und endlich dort gestaltet, wo er gestaltet werden muß: im zahnärztlichen Sprechzimmer.
  • Der zukünftige Zahnarzt wird nicht mehr der "Hardware - Mechaniker" der Vergangenheit, sondern der "Software - Programmierer" eines Therapieangebotes sein, das seine Patienten von oralem Leidensdruck befreit und das auf die Erhaltung oraler Strukturen ausgerichtet ist.
  • Das Zahntechnikerhandwerk und die von ihm gefertigten zahntechnischen Apparaturen werden sich in diesen zahnärztlich - therapeutischen Ûberlegungen unterordnen müssen.

Vor 100 Jahren, meine Damen und Herren, beschlossen bergische Zahnärzte, durch Gründung des "Bergischen Zahnärztevereins" die Professionalisierung der Zahnärzteschaft und der Zahnheilkunde aktiv voranzutreiben. Zurecht feiern Sie heute dieses denkwürdige Ereignis! Vergangene Erfolge sind aber leider schon vergangen! Scheuen wir uns deshalb nicht, unserem anstrengenden Beruf dadurch die intellektuelle Würde zurückzugeben, indem wir vergangene Erfolge als "Schatz für die Zukunft" (1. Tim. 6,19) nehmen - nüchtern, pragmatisch, sparsam und mit jenem Schuß Pfeffer, mit dem seit altersher im Bergischen Land unsere "Fabriksken" geführt werden und von denen das Bergische Heimatlied sagt: "...verkünden und rühmen die fleißige Hand, da ist meine Heimat, mein bergisches Land."